Mögliche Auswirkungen des Ministerratsbeschlusses über die Rolle der OSZE bei der Gestaltung und Steuerung großer Migranten- und Flüchtlingsbewegungen
von Claude Wild
Botschafter Claude Wild ist Ständiger Vertreter der Schweiz bei der OSZE, den Vereinten Nationen und den internationalen Organisationen in Wien. Er war 2016 Vorsitzender der informellen Arbeitsgruppe der OSZE zur Frage der Migrations- und Flüchtlingsströme.
In migrationspolitischen Kreisen wird 2016 als das Jahr in Erinnerung bleiben, in dem die internationale Staatengemeinschaft beschloss, einschlägigen Organisationen die nötigen politischen Vorgaben zu machen, damit sie die Arbeit an globalen und inklusiven Rahmenbedingungen für Migration und Flüchtlinge aufnehmen können. Durch verschiedene wichtige Beschlüsse, die im Laufe des Jahres gefasst wurden, besteht nun die Chance, sich mit der Frage der Gestaltung und Steuerung großer Migranten- und Flüchtlingsbewegungen in all ihren multidimensionalen Aspekten, auf globaler Ebene durch die Vereinten Nationen (VN) und auch auf regionaler Ebene in der OSZE, auseinanderzusetzen.
Die VN-Mitgliedstaaten fassten am 19. September 2016 auf dem VN-Gipfel für Flüchtlinge und Migranten in New York drei historische Beschlüsse. Sie nahmen die Internationale Organisation für Migration in den Organisationsverbund der Vereinten Nationen auf. Sie verabschiedeten die New Yorker Erklärung für Flüchtlinge und Migranten, einen globalen Plan für die Lebensrettung von Migranten und den Schutz ihrer Rechte. Und sie begannen mit den Vorarbeiten für die Erreichung eines Globalen Paktes für eine sichere, geordnete und reguläre Migration im Jahr 2018 sowie zu einem Globalen Pakt für Flüchtlinge bis zum Jahr 2018.
Das machte es wichtiger denn je, dass die OSZE-Teilnehmerstaaten ihrer Organisation als regionaler Abmachung gemäß Kapitel VIII der VN-Charta politische Handlungsempfehlungen auf entsprechend hoher Ebene zu der Frage geben, wie sie ihre Rolle angesichts der Auswirkungen großer Migranten- und Flüchtlingsbewegungen im OSZE-Raum auf die Sicherheit und die Menschenrechte besser definieren kann. Sie hatten auf dem Ministerrat 2015 bereits einen ersten erfolglosen Versuch unternommen, sich auf einen Text zu einigen, der stärker auf die Migranten- und Flüchtlings-„Krise“ ausgerichtet war, die sich damals vor allem auf der Balkanroute abzeichnete. Am 9. Dezember 2016 einigte man sich auf dem Ministerrat in Hamburg auf einen allgemeiner gefassten Beschluss, der zukunftsorientierte politische Handlungsempfehlungen für die OSZE bei der Gestaltung und Steuerung großer Migranten- und Flüchtlingsbewegungen enthält und in der Folge verabschiedet wurde.
Ein gutes Zeichen
Die Tatsache, dass es der OSZE gelang, diesen Ministerbeschluss so kurz nach den wichtigen globalen Schritten in New York zu verabschieden, ist ein gutes Zeichen. Sie zeigt, dass unsere Organisation trotz ihres schwerfälligen, auf Konsens basierenden Beschlussfassungsprozesses und der unterschiedlichen Standpunkte der Teilnehmerstaaten betreffend den Umgang mit gegenwärtigen und künftigen Herausforderungen für die europäische Sicherheit fähig ist, bei der Auseinandersetzung mit einem globalen Phänomen, das die Sicherheit und die Menschenrechte auch in ihrer Region beeinträchtigt, mit dem System der Vereinten Nationen verbunden zu bleiben.
Als Folge des Beschlusses bilden Fragen der Gestaltung und Steuerung großer Migranten- und Flüchtlingsbewegungen nun einen festen und dimensionenübergreifenden Bestandteil des umfassenden Sicherheitskonzepts der OSZE für den euro-atlantischen, den eurasischen und den euro-mediterranen Raum.
Die Ereignisse auf der Balkanroute im Jahr 2015 und die Tragödien auf See, die wir noch immer tagtäglich auf der zentralen Mittelmeer-Route miterleben, lassen keinen Zweifel daran, welche enorme Herausforderung große Migranten- und Flüchtlingsbewegungen sowohl für die Gewährleistung der Sicherheit als auch für den Schutz der Menschenrechte im OSZE-Raum bedeuten. Die Auseinandersetzung mit dieser Herausforderung ist deshalb als fester Bestandteil des umfassenden Sicherheitskonzepts der OSZE anzusehen, wie dies bereits für die Auswirkungen der Binnenvertreibung gilt.
Große Migranten- und Flüchtlingsbewegungen können die Sicherheit und die Menschenrechte auf verschiedenen Ebenen bedrohen. Verletzliche Personen in Bewegung können unterwegs Opfer von Menschenhändlern/Menschenschmugglern werden oder Gefahr laufen, dass ihre Grundrechte verletzt werden, wenn sie die Landesgrenzen überschreiten. Gemeinden sind für die Aufnahme eines großen Zustroms von Menschen oft nicht vorbereitet und sind daher mit Problemen für Gesellschaft und Sicherheit konfrontiert. Schließlich müssen die Staaten mit einer Zunahme der organisierten Kriminalität zurande kommen, die durch lukrative kriminelle Aktivitäten entlang der Fluchtrouten und durch die Ausbeutung der Menschen, die dort unterwegs sind, gefördert wird.
Andererseits hat eine sichere, geordnete und reguläre Migration auch beträchtliche Vorteile, die oft unterschätzt werden. Deshalb muss die verantwortungsvolle Gestaltung und Steuerung großer Migranten- und Flüchtlingsbewegungen auch mit der Anerkennung des bedeutenden wirtschaftlichen und sozialen Beitrags einhergehen, den Migranten und Flüchtlinge zu inklusivem Wachstum und zu nachhaltiger Entwicklung leisten können.
Diesen Fragen sollte nun in der Arbeit des designierten Vorsitzes und künftiger Vorsitze der OSZE sowie in der Arbeit der Durchführungsorgane der OSZE ebenso wie in der gemeinsamen Arbeit mit den OSZE-Kooperationspartnern ständige Aufmerksamkeit und angemessene Ressourcen gewidmet werden.
Handlungspotenzial für die OSZE
Das Potenzial für OSZE-Maßnahmen, die Mehrwert schaffen, auch durch Nutzung der Fähigkeit der Organisation, zum Dialog unter vielen Beteiligten aufzurufen und auf umfangreiche Expertise zuzugreifen, ist riesig. Internationale Akteure, die sich mit den Folgen großer Migranten- und Flüchtlingsbewegungen befassen (jedoch über unterschiedliche Mandate und Instrumente verfügen), darunter die Internationale Organisation für Migration, der UN-Flüchtlingshochkommissar (UNHCR) und das Büro des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte, bestärken die OSZE darin, dieses Potenzial sichtbarer und konsequenter zu nutzen. Eine bessere innere und internationale Koordination, mehr Projektarbeit der Durchführungsorgane, einschließlich der Feldoperationen, Solidaritäts- und Partnerschaftsinitiativen für die Staaten, die im OSZE-Raum an vorderster Front stehen, und für Nachbarstaaten – das alles sind Möglichkeiten, wie dieses Potenzial in Übereinstimmung mit den in Hamburg erteilten politischen Leitlinien und ohne Überschneidung mit den Aktivitäten anderer lokaler, nationaler und internationaler Akteure genutzt werden kann.
Parallel zu den Vorbereitungsarbeiten der VN für die Verabschiedung der New Yorker Erklärung für Flüchtlinge und Migranten und den Fahrplan für die Globalen Pakte für Migration beziehungsweise für Flüchtlinge führte die OSZE zwischen März und Juli 2016 im Rahmen der informellen Arbeitsgruppe zur Frage der Migrations- und Flüchtlingsströme (IWG) ausführliche Anhörungen durch. Als Vorsitzender der IWG hatte ich die Aufgabe, einen Bericht auszuarbeiten, der in der Sondersitzung des Ständigen Rates vom 20. Juli 2016 präsentiert und diskutiert wurde. Der Bericht und die in der IWG geleistete Vorarbeit bleiben umfassende und nützliche Anregungen für die gegenwärtige und die künftige Arbeit der OSZE. Dasselbe war auch während der Verhandlungen im Herbst in Wien der Fall, die schließlich in dem auf dem Hamburger Ministerratstreffen verabschiedeten Ministerbeschluss gipfelten. Das lässt den Schluss zu, das der Ministerbeschluss und die Arbeit der OSZE im Verlauf des Jahres 2016 zur rechten Zeit kamen, realitätsnah waren und es der Organisation nun erlauben werden, ihr Fachwissen, ihre Initiativkraft und ihre Stellung als regionale Abmachung gemäß Kapitel VIII der VN-Charta in vollem Umfang zu nutzen, um ihre besondere Rolle in der Steuerung und Steuerung großer Migranten- und Flüchtlingsbewegungen zu spielen.
Haftungsausschluss: Die in diesem Artikel zum Ausdruck gebrachten Ansichten geben die Meinung des Verfassers als Vorsitzender der informellen Arbeitsgruppe der OSZE zur Frage der Migrations- und Flüchtlingsströme und nicht notwendigerweise den Standpunkt der Schweizer Regierung wieder.
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