Entmilitarisierung Ein konstruktives Werkzeug für Zusammenarbeit und Frieden: Musterbeispiel Åland-Inseln
von Sia Spiliopoulou Åkermark
2017 feiert Finnland sein hundertjähriges Bestehen. 2016 beging es ein sogar noch älteres Jubiläum: Am 30. März war es 160 Jahre her, dass die Åland-Inseln, ein Archipel von über sechseinhalbtausend inmitten der Ostsee zwischen dem heutigen finnischen Festland und Schweden verstreut gelegenen Inseln, zur entmilitarisierten Zone erklärt wurden. Fast 29 000 Menschen leben hier, die meisten von ihnen mit schwedischer Muttersprache.
Die Entmilitarisierung der Åland-Inseln wurde mit einem dreiseitigen Übereinkommen zwischen Großbritannien, Frankreich und Russland beschlossen und 1856 im Pariser Friedensvertrag, der den Krim-Krieg beendete, besiegelt. Hinter dem Übereinkommen stand sicherlich nicht die naive Sehnsucht nach Frieden, und damals sorgte man sich auch nicht sonderlich um das Wohl der Menschen, die auf den Inseln lebten. Der Grund für die Entmilitarisierung war und ist bis heute das Bestreben, die Befestigung dieses kleinen Stücks Land zu verhindern und es damit militärisch weniger begehrenswert und weniger gefährlich zu machen, als es ansonsten wäre. Das war vor allem das Anliegen des schwedischen Nachbarn, einer treibenden Kraft hinter dem Vertrag, auch wenn Schweden es aus verschiedenen Gründen vorzog, dem Friedensvertrag von 1856 selbst nicht beizutreten.
Eine frühe vertrauensbildende Maßnahme
Mit dem Übereinkommen über die Entmilitarisierung der Åland-Inseln wollten die damaligen Supermächte eine pragmatische Lösung für die angestrebten Stärkung der, wie es im französischen Originaltext hieß, bienfaits de la paix générale – „der Früchte des allgemeinen Friedens“, finden. Anstatt in Wettstreit um eine Militärpräsenz in diesem umstrittenen Gebiet und die territoriale Kontrolle darüber zu treten, sagten die Vertragsstaaten zu, sich fernzuhalten und eine Kommunikationsplattform für alle dieses Gebiet betreffenden Fragen zu schaffen. Man könnte es eine frühe vertrauensbildende Maßnahme nennen.
Das Entmilitarisierungsabkommen kann als Vorläufer des kollektiven Sicherheitssystems gelten, das 1920 mit dem Völkerbund geschaffen wurde und dem Zweck diente, die Anwendung von Gewalt in den zwischenstaatlichen Beziehungen zu beschränken und neue Wege im Umgang mit Konflikten und Bedrohungen des Friedens zu finden. Der Gedanke der kollektiven Streitbeilegung stand im Mittelpunkt des Völkerbundsystems, doch, wie wir alle wissen, brach es zusammen oder, besser gesagt, legte es eine Pause ein (teils aufgrund der fehlenden Bereitschaft der Supermächte der damaligen Zeit, sich an die Regeln zu halten, die sie selbst aufgestellt hatten) bis 1945 die Vereinten Nationen und die Charta der Vereinten Nationen an seine Stelle traten.
Inzwischen war das Übereinkommen über die Entmilitarisierung der Åland-Inseln durch die 1921 erfolgte Verabschiedung der Konvention über die Nichtbefestigung und die Neutralisierung der Åland-Inseln gestärkt worden. Zu den zehn ursprünglichen Signatarstaaten zählte Finnland, das mittlerweile als unabhängiger Staat anerkannt worden und dem Völkerbund beigetreten war. Finnland war bereits mittels einer Streitbeilegung durch den Völkerbund zu Beginn des Jahres die Gebietshoheit über die Inseln zuerkannt worden. Die international verankerten verbindlichen Neutralisierungsregeln für die Inseln unterscheiden sich von der Politik der Neutralität und Nichtpaktgebundenheit Finnlands. Die Neutralisierungsregeln ergänzten die bisherigen völkerrechtlichen Verpflichtungen durch das Verbot der „direkten oder indirekten“ Nutzung der Åland-Inseln für „irgendeinen mit militärischen Operationen verbundenen Zweck“ in Kriegszeiten.
Eine lange Tradition
Im Grunde war Entmilitarisierung im ausgehenden 19. Jahrhundert nichts Neues. Die ersten dokumentierten Beispiele finden sich im frühen Mittelalter und Regeln, die die Zerstörung von Befestigungen verlangen und deren Wiederrichtung verbieten, waren in Friedensverträgen im Europa des 17. und 18. Jahrhunderts keine Seltenheit.
Ein frühes Beispiel war der Vertrag von Cateau-Cambrésis (zwischen Frankreich und Spanien von 1559), der ein Verbot von Befestigungen in der Gegend um Thérouanne beinhaltete. 1768 trat Dänemark mehrere Inseln in der Elbmündung an Hamburg ab, mit der Auflage, dass auf diesen Inseln keine militärischen Anlagen errichtet werden dürfen. In den Friedensverträgen, die den Ersten Weltkrieg beendeten, z. B. über das Saar-Gebiet, die Freie Stadt Danzig, Spitzbergen/Svalbard und Mittelmeerinseln, gab es zahlreiche Entmilitarisierungsvereinbarungen. Diese Praxis setzte sich bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg fort, zum Beispiel in Bezug auf die Inseln des Dodekanes, Pelagosa und das Freie Gebiet Triest.
Ein Sonderfall, was das Ausmaß der Institutionalisierung seiner internationalisierten Verwaltung betrifft, ist die Antarktis. Im Antarktisvertrag von 1959 heißt es, dass „die Antarktis im Interesse der ganzen Menschheit … für alle Zeiten ausschließlich für friedliche Zwecke zu nutzen ist und nicht zum Schauplatz oder Gegenstand internationaler Zwietracht werden darf“. Eine wenn auch erfolglose Entmilitarisierungsbemühung jüngeren Datums war der Zypern-Plan von 1999 des ehemaligen Generalsekretärs der Vereinten Nationen, Kofi Annan. Einer der darin vorgesehenen Punkte war die Entmilitarisierung der Insel.
Erhalt der Souveränität
Entmilitarisierung und Neutralisierung können als Einschränkungen der territorialen Souveränität verstanden werden, sie sind jedoch gleichzeitig eine Bestätigung der Idee der territorialen Souveränität und der Kontrolle über ein Gebiet. Voraussetzung für das Regime der Åland-Inseln ist die klare territorial Souveränität und somit die Fähigkeit und der rechtliche Anspruch sowie die Verpflichtung – in diesem Fall Finnlands –, gegen die Zone gerichtete Angriffe und unmittelbare Bedrohungen abzuwehren, um ihren entmilitarisierten und neutralen Status zu schützen.
Aber gerade diese Lösung bedeutet auch eine Ausnahme und eine Herausforderung für unsere Vorstellung davon, wie diese territoriale Souveränität ausgeübt werden kann. Die Regeln der Entmilitarisierung und Neutralisierung verlangen die rechtlich verbindliche Zusage, diplomatischen Mitteln der Kommunikation und Verhandlung Vorrang zu geben gegenüber den Mitteln der militärischen Macht, auch wenn Machtverhältnisse anerkannt werden. Zuständig für die Entmilitarisierung ist in erster Linie das finnische Außenministerium. Das System verlangt Transparenz und Kommunikation bei mutmaßlichen Auseinandersetzungen, was im bilateralen Abkommen von 1940 zwischen Finnland und der Sowjetunion noch deutlicher herausgestrichen wurde. Sowohl Schweden als auch die Russische Föderation unterhalten Konsulate auf Åland. Oberster Verwaltungsbeamter der Åland-Inseln ist der Gouverneur. Er befasst sich mit Angelegenheiten der Staatssicherheit und fungiert als Bindeglied zwischen der Republik Finnland und der Regionalregierung und dem Parlament der Selbstverwaltung der Åland-Inseln. Er wird vom Präsidenten der Republik Finnland im Einvernehmen mit dem Präsidenten des Parlaments Ålands ernannt und hält auch regelmäßigen Kontakt mit den Konsulaten.
Von der Entmilitarisierung ist es nur ein kleiner Schritt zur Abrüstung. Sie ist Ausdruck der Einsicht, dass das Wettrüsten vieler Länder sowohl vor 1914 als auch vor 1939 erheblich zum Ausbruch der verheerenden Weltkriege beigetragen hat. Die finanziellen Schieflagen in diesen Vorkriegszeiten bestehen heute nicht. Laut dem Human Development Report 2015 des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen haben die meisten Länder in der OSZE-Region einen sehr hohen oder hohen menschlichen Entwicklungsstand. Dennoch ist heute innerhalb und außerhalb Europas neben der international zunehmenden Anwendung von Gewalt eine langsame aber stetige Eskalation der aggressiven Rhetorik sowie eine Zunahme der Militärausgaben und militärischen Aktivitäten festzustellen. Es ist selten einfach oder sinnvoll zu versuchen herauszufinden, wer als Erster einen Konflikt losgetreten hat und wer die meiste Schuld an einer schwierigen Situation trägt.
Angesichts dieser Tatsache müssen wir Kommunikations- und Kooperationsstrategien und
‑instrumente wo immer möglich verstärken und uns um neue Wege zur Förderung der Abrüstung bemühen. Entmilitarisierung ist einer davon. Sie ist eine pragmatische und kontextbezogene Lösung, die ein umsichtiges Management durch alle betroffenen Seiten und eine Verpflichtung zur Beschränkung der Anwendung von Gewalt verlangt. Könnte sie in neuen Situationen nützlich sein? Wie wäre es zum Beispiel mit der Arktis? Könnte eine andere, doch ähnliche Lösung hier ins Auge gefasst werden, ausgehend von dem alten Gedanken, dass die arktischen Gebiete ausschließlich friedlich Zwecken vorbehalten sein sollten?
Sia Spiliopoulou Åkermark ist außerordentliche Professorin für Völkerrecht am Friedensinstitut der Åland-Inseln. Zurzeit leitet sie das Forschungsprojekt „Demilitarization in an increasingly militarized world. International perspectives in a multilevel regulatory framework – the case of the Åland Islands“. Näheres zu dem Projekt findet sich hier: www.peace.ax/en/research/research-projects.
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