Durch die Brille des transatlantischen Sklavenhandels betrachtet
von Julia O’Connell Davidson
Seit dem Jahr 2000 ist es unter Politikern, politischen Entscheidungsträgern und vielen NGO zunehmend üblich geworden, vom Menschenhandel als einer modernen Entsprechung zum transatlantischen Sklavenhandel zu sprechen. So schrieb zum Beispiel der italienische Ministerpräsident Matteo Renzi angesichts der Anzahl der Todesopfer bei der Überquerung des Mittelmeers von Libyen aus, die im April 2015 in erschreckender Weise zugenommen hatte: „Menschenhändler sind die Sklavenhändler des 21. Jahrhunderts, und sie sollten vor Gericht gestellt werden.“ Die Betrachtungsweise des Menschenhandels als Sklavenhandel geht auf eine lange ideengeschichtliche Tradition zurück, in der Sklaverei anhand der Reduzierung von Personen auf ihren Wert als Handelsware definiert wurde. 1845 beschrieb George Bourne, einer der Mitbegründer der amerikanischen Gesellschaft gegen Sklaverei, das einmalige Unrecht der Sklaverei als die Tatsache, dass sie „Personen zu Sachen reduziert“. Der Menschenhandel unserer Zeit wird als moderner Sklavenhandel angesehen, weil er offenbar ebenfalls die für die Würde und das Wohl des Menschen unverzichtbare Linie zwischen Personen und Sachen missachtet und Menschen ausschließlich als Handelsware sieht, die man gewinnbringend ausbeuten kann. Deshalb muss dieser Handel, so wird argumentiert, mit allen erforderlichen Mitteln unterbunden werden.
Sieht man sich jedoch die Geschichte der transatlantischen Sklaverei etwas genauer an, gelangt man zu ganz anderen Schlussfolgerungen darüber, was die Brutalität des Sklavenhandels ausmachte, weshalb Migranten und Flüchtlinge Ausbeutung und Missbrauch schutzlos ausgeliefert sind und welche politischen Maßnahmen nötig sind, um sie zu schützen.
Personen, Sachen und Sklaven
In New Orleans brach 1834 im Herrenhaus von Dr. Louis LaLaurie und seiner Frau Delphine ein Brand aus. Nachbarn, die herbei eilten, um zu helfen, fanden die Dachkammern des Hauses versperrt, und als sie die Türen aufbrachen, entdeckten sie sieben Personen, die noch lebten, aber furchtbar verstümmelt an der Decke angekettet waren. Die Opfer waren Sklaven der LaLauries, und wie sich später herausstellte, hatte Delphine LaLaurie noch viele andere Männer, Frauen und Kinder gefoltert und ermordet. Der Fall erregte großes Aufsehen in der damaligen Literatur gegen den Sklavenhandel, da er die Ohnmacht der Versklavten drastisch vor Augen führte, die ihren Herren und Herrinnen hilflos ausgeliefert waren. Man muss allerdings wissen, dass es in den meisten Sklavenstaaten nicht erlaubt war, Sklaven zu töten, und dass Delphine LaLaurie gegen das Bürgerliche Gesetzbuch von Louisiana und dessen Bestimmungen zur Sklaverei verstoßen hatte, da es den Sklavenhaltern untersagte, Menschen, die ihr Eigentum waren, zu verstümmeln, zu Krüppeln zu machen oder zu töten.
Eigentümer dürfen in der Regel mit ihrem Besitz tun, was sie wollen. In demselben Bürgerlichen Gesetzbuch stand nichts darüber, dass etwa der Eigentümer eines Buches dieses nicht zerreißen durfte, wenn es ihm nicht gefiel. Daraus wird ersichtlich, dass in der Atlantischen Welt die Versklavten zwar rechtlich gesehen als Vermögensgegenstand galten, jedoch nicht eine „Sache“ wie jede andere waren. Das Kernstück der Sklaverei bildete eigentlich ein Regelwerk, das den Sklaven einen „dualen Charakter“ als Sache UND als Person zuweist, wie Saidiya Hartman erläutert. In der Theorie erlegte dieser Kodex den Sklavenhaltern Beschränkungen auf. Noch entscheidender allerdings ist, dass er auch die Versklavten mit Sanktionen belegte, indem er sie moralisch und rechtlich als PERSONEN für jede Straftat, die sie begingen, verantwortlich machte.
Im Gegensatz zu Vieh, mit dem sie üblicherweise verglichen wurden, konnten die Sklaven in der Atlantischen Welt festgenommen, vor Gericht gestellt und für die Begehung verbotener Handlungen bestraft werden. Dazu zählte jede Form des Widerstands oder der Weigerung, sich der Gewalt eines Herren oder generell eines Weißen zu beugen, wie willkürlich oder überzogen sie auch sein mochte. Auch jeder Fluchtversuch galt laut Gesetz als Verbrechen. Das ging so weit, dass nach dem Fugitive Slave Law ein entflohener Sklave als PERSON für den DIEBSTAHL seiner selbst als einer SACHE zur Verantwortung gezogen wurde. Dieser Widerspruch war ein notwendiges Merkmal der Sklaverei. Menschen bleiben handlungsfähig, solange sie nicht tot oder in einem Verließ angekettet sind, und ein toter Sklave oder ein in einem Verließ weggesperrter Sklave wäre kein produktiver Aktivposten mehr gewesen. Die Sklavengesetze mit ihren unglaublich brutalen Strafen sollten die Sklaven von eigenständigem Handeln abhalten, insbesondere davon, Widerstand gegen die Lebensbedingungen zu leisten, unter denen sie rechtlich als Eigentumsgegenstand galten, oder diesen zu entfliehen.
Rechtlich gesehen war der Sklave also weder ganz „Sache“, noch ganz „Person“. Diese Dichotomie bedeutete in der Praxis, dass es für den Versklavten keinen Schutz gab, wenn sein Besitzer ihn folterte oder ermordete. Die Sklaven von Delphine Lalaurie hätten sich strafbar gemacht, wenn sie ihr Haus ohne ihre Erlaubnis verlassen hätten. Wer ihnen bei der Flucht geholfen hätte, hätte ebenfalls eine strafbare Handlung begangen.
Ein neuer Blick auf die Parallelen zwischen damals und heute
Wenn man sich bei der Betrachtung der krisengesteuerten Migrationsbewegungen von heute auf die Geschichte des transatlantischen Sklavenhandels beruft, dann eignet sich der Sklavenhandel, der Afrikaner in die amerikanische Sklaverei trieb, nicht als Vergleich. Die afrikanischen Opfer des Sklavenhandels wollten sich keineswegs auf den Weg machen; es bedurfte einer übermächtigen physischen Gewalt, um sie dazu zu zwingen. Flüchtlinge und Migranten hingegen wollen sich auf den Weg machen, und das aus guten Gründen. Überzeugender ist der historische Vergleich, wenn man die Migranten und Flüchtlinge von heute mit den Sklaven vergleicht, die aus der Sklaverei zu fliehen versuchten. Letztere trachteten danach, ein freies Territorium zu erreichen, in der Hoffnung, das eigene Leben zu retten und/oder ihren Status und ihre Lebenschancen drastisch zu verbessern. Ähnliche Hoffnungen hegen die Menschen, deren Massenbewegung man heute als „Migrationskrise“ bezeichnet.
Wenn wir diesen gemeinsamen, starken Wunsch nach Mobilität in den Blick nehmen, zeigt sich eine weitere historische Parallele, nämlich jene zwischen den Sklavenstaaten und den modernen Staaten im Hinblick auf die Techniken, die sie zur Beschränkung der Mobilität der Menschen verwenden. Fast alle Strategien, die EU-Staaten heute zu diesem Zweck einsetzen, wurden schon von den Sklavenstaaten zur Steuerung der Mobilität der versklavten Bevölkerung vorweggenommen und eingesetzt, wie etwa: Pässe, Visa, Grenzpatrouillen und -überwachung, Sanktionen gegen Beförderungsunternehmen, Haft und Gesetze, die jene unter Strafe stellen, die den Menschen, die sich ohne staatliche Erlaubnis auf den Weg machen, Hilfe und Unterstützung leisten. Im März 2016 wurde Lisbeth Zornig, eine dänische Kinderrechtsaktivistin, angeklagt und nach dem Menschenhandelsgesetz verurteilt, weil sie eine syrische Familie in ihrem Auto nach Kopenhagen mitgenommen hatte. Auch ihr Mann erhielt eine Geldstrafe, weil er die Familie bei sich zu Hause zu Kaffee und Kuchen eingeladen hatte, ehe er sie zum Bahnhof fuhr, wo er ihnen Fahrscheine nach Schweden kaufte. Bei diesem und ähnlichen Beispielen kann man keine Parallele zwischen dem „Menschenhandel“ als rechtlichem Konstrukt und dem transatlantischen Sklavenhandel ziehen, hingegen zeigt sich eine große Ähnlichkeit zwischen der Menschenhandelsgesetzgebung unserer Zeit und dem amerikanischen Gesetz betreffend geflüchtete Sklaven, das jene, die entlaufenen Sklaven halfen, kriminalisierte.
Anklänge an die Sklaverei früherer Zeiten gibt es aber auch bei den Erlebnissen jener Migranten und Flüchtlinge, denen es – mit oder ohne Hilfe Dritter – gelingt, über das Meer oder durch einen Stacheldrahtzaun den „Grenzjägern“, Wachposten und anderen schwer überwindbaren und abschreckenden Hindernissen, die die EU-Staaten gegen ein sicheres Weiterkommen errichtet haben, zu entkommen. Illegale Migranten werden auf EU-Boden zunehmend mit Strafen bedroht, wenn sie eigentlich nur tun, was notwendig ist, um das Überleben zu sichern – von der Annahme einer Arbeit, dem Anmieten einer Wohnung bis zur Eröffnung eines Bankkontos –, und dadurch in Not und Armut gezwungen. Sie werden auch zunehmend durch Zwang zur Bewegungslosigkeit verurteilt, entweder durch Festhalten in Anhaltelagern oder durch Maßnahmen, die sie daran hindern sollen, die Orte zu verlassen, an denen sie kaum Zugang zu den Dingen haben, die sie zum Leben benötigen, und wo sie von den Elementen, Krankheit und Bränden bedroht sind (in Lagern, wie dem erst vor Kurzem geschlossenen Dschungel von Calais und an der Grenze zur ehemaligen jugoslawischen Republik Mazedonien).
Die Ähnlichkeiten zwischen den Lebensbedingungen jener, die in unserer Zeit keinen regulären Einwanderungsstatus haben, und jenen, die zu Zeiten der Sklavenstaaten keinen Status als Freie hatten, sind zwar augenfällig, liegen jedoch nicht darin, dass Personen zu einer Sache degradiert werden. Die Ähnlichkeit besteht vielmehr darin, dass die beiden Gruppen ein Konstrukt als besondere und nicht gleichberechtigte „Personen“ sind. So wie ein freier weißer Bürger in einem Sklavenstaat durch den Zufall seiner Geburt Rechte und Freiheiten besaß, die weit über die eines Sklaven hinausgingen, so besitzen die Bürger der Europäischen Union (auch sie oft durch den Zufall ihrer Geburt) Rechte und Freiheiten, die weit größer sind als die der benachteiligten Migranten, die sich auf demselben Boden aufhalten. Diese Ungleichheit öffnet der Ausbeutung und dem Missbrauch Tür und Tor.
Jene, die kein Recht auf das haben, was zum Leben in einem bestimmten Gebiet notwendig ist (Arbeit, Wohnraum, Gesundheitsfürsorge), oder nicht das Recht besitzen, sich an den Ort ihrer Wahl zu begeben oder am Ort ihrer Wahl zu bleiben (so dass sie jeden Augenblick Gefahr laufen, angehalten, festgenommen oder gewaltsam von Staatsorganen über die Grenzen abgeschoben zu werden), müssen in Kauf nehmen, dass sie von anderen abhängig sind, die ihnen den Zugang zu Mobilität und zu einer Lebensgrundlage ermöglichen. Angesichts dieser enormen Abhängigkeit sind Berichte kein Wunder, dass Migranten- und Flüchtlingskinder und -frauen sexuell missbraucht werden, dass Migranten und Flüchtlinge Personen, die ihnen Hilfe anbieten, damit sie entkommen oder überleben können, Unsummen bezahlen, oder wenn wir entdecken, dass sich manche der Menschen, die ihnen Hilfe anbieten, als skrupellos und sogar brutal herausstellen und ihre Bedürftigkeit ausnutzen, um sie zu betrügen, auszubeuten und auszunutzen.
Kein Zweifel, Menschen, die Migrantenkinder und erwachsene Migranten ausnutzen, handeln moralisch verwerflich. Ebenso verwerflich sind aber ganz ohne Zweifel auch die Gesetze und Politiken, die Migranten und Flüchtlinge unter entsetzlichen, unhygienischen, gefährlichen und hoffnungslosen Verhältnissen festhalten, die sie von ihren Partnern und Kindern trennen, die sie mittellos und obdachlos machen und die ihnen die Rechte vorenthalten, die die (meisten) Bürger der Europäischen Union zu vollwertigen Personen machen. Die Asyl- und Einwanderungspolitik der Europäischen Union macht das Leben zehntausender friedlicher Männer, Frauen und Kinder, die sich nur auf den Weg gemacht haben, um ihr eigenes Leben und ihr Wohlergehen zu retten, zu einem reinen Glücksspiel.
Es muss sich etwas ändern
Vor dem Bürgerkrieg in Amerika waren sogar Weiße, die die Sklavenhaltung aus moralischen Gründen verurteilten, nicht durchwegs davon überzeugt, dass es machbar oder durchführbar wäre, diese mit einem Schlag abzuschaffen und aus ehemaligen Sklaven freie und gleiche Staatsbürger zu machen. Die Abschaffung der Sklaverei, so meinten sie, würde die Löhne der freien weißen Arbeitnehmer drücken und zum wirtschaftlichen Ruin führen, da die befreiten Sklaven eine enorme und untragbare Bürde für die Gemeinschaft wären. Die Versklavten seien noch nicht reif, gleichberechtigte Bürger zu sein, sagten sie. Die Sklaven aus Afrika seien zu unwissend, kulturell zu unterschiedlich, zu gewaltbereit. Nach ihrer Befreiung würden die männlichen Sklaven die weißen Frauen missbrauchen, befürchtete man. Es ist verblüffend, wie sehr diese Argumente gegen die sofortige Abschaffung der Sklaverei und die Gleichberechtigung der Versklavten der heutigen Argumentation gleichen, die gegen eine Öffnung der Grenzen der Europäischen Union und für die Beendigung der Diskriminierung aufgrund der Nationalität ins Treffen geführt werden.
Lässt man den Rassismus beiseite, der hinter diesen Einwänden steht, bleibt die Tatsache, dass Menschen immer in Bewegung sein werden – Mobilität gehört zum Menschsein. Und mit Sicherheit werden die Menschen nicht aufhören, sich aus Kriegsgebieten und aus anderen Situationen, in denen es unmöglich ist, sein Leben zu fristen oder Träume und Ziele zu verfolgen, an Orte zu begeben, wo sie bessere Chancen vorfinden. Wenn wir nicht wollen, dass sie ertrinken, in LKW-Anhängern ersticken, von den Rädern eines Zuges zermalmt oder von Menschen ausgebeutet und misshandelt werden, die sie mit dem Versprechen, ihnen bei der Reise und Arbeitssuche zu helfen, in die Falle locken und missbrauchen, dann müssen wir die Mauern, die Beschränkungen und Ungleichheiten beseitigen, die sie so ungeheuer wehrlos machen.
Delphine LaLaurie liefert uns die moralischen Argumente für ein Umdenken. Es ist zwar wenig überraschend, dass die Gegner des Sklavenhandels über ihre Verbrechen entsetzt waren, doch ebenso entsetzt war auch die Gesellschaft der weißen Sklavenhalter, was wir nicht vergessen sollten. Die freien Bürger von New Orleans waren derartig empört über ihre Schändlichkeit, dass sie den ersten Aufstand in der Stadt anzettelten, um am Ansitz der LaLauries Vergeltung zu üben. Die legale Institution der Sklavenhaltung zu unterstützen oder davon zu profitieren hieß nicht, dass man auch sadistische Folter unterstützte. Daher konnte man durchaus die übermäßige und überflüssige Gewalt von LaLaurie verdammen, ohne zugleich den rechtmäßigen Unterschied zwischen Sklaven und Freien in Frage zu stellen. Dasselbe geschieht heute, wenn manche Menschen sich moralisch über die Menschen entrüsten, die sich die Wehrlosigkeit von Migranten und Flüchtlingen zunutze machen, um sie der ungeheuerlichsten Gewalt und Ausbeutung auszusetzen, ohne zugleich die Gesetze zu verdammen, die ALLE irregulären Migranten zu potenziellen Opfern eines derartigen Missbrauchs machen.
Wenn die Europäer nicht denselben Standpunkt in Bezug auf die Opfer des Menschenhandels einnehmen wollen, wie die Sklavenhalter von New Orleans gegenüber den Opfern von LaLaurie, und deren Schicksal beklagen, das wir ihnen eigentlich selbst auferlegt haben, dann müssen wir endlich die Grenzen öffnen, die Neuansiedlung von Flüchtlingen zulassen, mehr legale Migrationswege schaffen, mit dem Ziel gleicher Rechte und ohne Ansehen der Nationalität.
Julia O’Connell Davidson ist Professorin für Soziologie an der Fakultät für Soziologie, Politikwissenschaft und Internationale Studien der Universität Bristol. Wir bedanken uns auch für die freundliche Unterstützung des Leverhulme Trust, der die Forschungsarbeit (MRF-2012-085), auf der dieser Artikel beruht, finanziert hat.
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