Statusneutrale Rüstungskontrolle – Verheißungen und Fallstricke
von Sergi Kapanadse, Uli Kühn, Wolfgang Richter und Wolfgang Zellner
Der Helsinki-Prozess konnte in den 1970er Jahren deshalb so erfolgreich sein, weil die Bereitschaft bestand, den territorialen Status quo in Europa zu akzeptieren. Anders lagen die Dinge nach dem Ende des Kalten Krieges und der Auflösung der Sowjetunion: Man hatte es plötzlich mit einer neuen territorialen Realität zu tun, mit neuen Staaten mit ungewissem Sicherheitsstatus, mit bewaffneten Konflikten mit Separatisten und ethnischen Unruhen.
Territorialstreitigkeiten in Osteuropa und im Südkaukasus haben die Beziehungen zwischen Staaten vergiftet und die Existenzgrundlage der Menschen seit nun schon einer ganzen Generation zerstört. Sie behindern die Umsetzung internationaler Verpflichtungen über Rüstungskontrolle und vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen (VSBM) in Gebieten, die von De-facto-Regimen kontrolliert werden. Gleichzeitig blockieren Meinungsverschiedenheiten bezüglich des Status dieser Regime die Entwicklung gesamteuropäischer Rüstungskontrollmechanismen, insbesondere des Vertrags über konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE) und des Angepassten KSE-Vertrags.
In diesen umstrittenen Gebieten können statusneutrale vertrauensbildende und Rüstungskontrollmaßnahmen eine wichtige Rolle als Werkzeug sowohl der Konfliktverhütung als auch der Konfliktlösung spielen. Keine Frage, statusneutrale Rüstungskontrolle ist alles andere als einfach. Rüstungskontrollvereinbarungen werden gewöhnlich von Regierungen geschlossen, die völkerrechtlich anerkannte Staaten repräsentieren. Doch viele Völkerrechtexperten vertreten die Auffassung, dass gemeinsame Aktivitäten, ja sogar Verträge mit De-facto-Regimen möglich sind, sofern der politische Wille dazu vorhanden ist. Historische Beispiele dafür sind das Passierscheinabkommen zwischen den beiden deutschen Staaten von 1963 und der Vertrag über ein begrenztes Verbot von Kernwaffenversuchen von 1963, aber auch die Namen und das Funktionieren einer Reihe von Feldoperationen der Vereinten Nationen und der OSZE, darunter deren jeweilige Missionen im Kosovo, oder die internationalen Genfer Gespräche, an denen Vertreter aus Tiflis, Zchinwali, Suchumi, Moskau und Washington teilnehmen.
Ein fast vergessenes OSZE-Dokument
Die OSZE ist möglicherweise die einzige regionale Sicherheitsorganisation mit einem vereinbarten Dokument über statusneutrale Schritte, die in Konfliktsituationen zu setzen sind, und zwar das 1993 verabschiedete und so gut wie vergessene Dokument „Stabilisierende Maßnahmen für örtlich begrenzte Krisensituationen“. Dort heißt es: „Die an einer konkreten Krisensituation beteiligten Parteien werden in jedem einzelnen Fall gemäß den einschlägigen völkerrechtlichen Normen und KSZE-Bestimmungen identifiziert. Sind diese Parteien keine Staaten, so wird ihr Status durch diese Identifikation und ihre nachfolgende Teilnahme an der Verhütung, Bewältigung und/oder Beilegung der Krise nicht berührt.“ Das heißt in anderen Worten, dass Staaten und andere Parteien in einem Krisenverhütungs-, Krisenbewältigungs- beziehungsweise Krisenbeilegungsprozess ungeachtet ihres Status zusammenarbeiten können, sofern alle Seiten mit dieser Vorgehensweise einverstanden sind.
Das Dokument bietet eine große Auswahl möglicher Handlungsoptionen. So finden sich etwa unter dem Titel „Transparenzmaßnahmen“ Punkte wie „Außerordentlicher Informationsaustausch“ oder „Ankündigung bestimmter militärischer Aktivitäten“. Der Abschnitt „Beschränkende Maßnahmen“ enthält Vorschläge zur „Behandlung irregulärer Kräfte“ oder zu „Einschränkungen bestimmter militärischer Aktivitäten“. Von besonderem Interesse sind die „Maßnahmen zur Verstärkung des Vertrauens“, die unter anderem Konzepte wie „Verbindungsteams“, die „Einrichtung direkter Kommunikationsverbindungen“, „Gemeinsame Expertenteams zur Unterstützung der Krisenbewältigung“ und „Gemeinsame Koordinationskommissionen oder -teams“ einführen.
Die in diesem Dokument skizzierten Maßnahmen sollen die Sicherheit in umstrittenen Gebieten und in deren Umfeld verbessern, ohne grundsätzliche statusbezogene Positionen der beteiligten Parteien zu beeinträchtigen und dem Ergebnis von Konfliktbeilegungsprozessen vorzugreifen, die letztlich den politischen Status dieser Gebiete bestimmen werden.
Schwierig zu verwirklichen
In der Praxis erwies es sich bisher als schwierig, zu statusneutralen Rüstungskontrolllösungen zu kommen. Genau genommen gibt es so gut wie kein erfolgreiches Beispiel eines solchen Ansatzes. De-facto-Regime sprechen einer Zentralregierung kategorisch das Recht ab, zum Zwecke der Umsetzung von Rüstungskontroll- oder Vertrauensbildungsvereinbarungen als Gaststaat für das von ihnen kontrollierte Gebiet aufzutreten. Meist wollen sie diese Rechte selbst wahrnehmen oder sie leugnen, dass das umstrittene Gebiet in den Geltungsbereich der fraglichen Vereinbarung fällt. Drittstaaten, die ein De-facto-Regime nicht anerkannt haben, steht es nach dem Völkerrecht nicht zu, Funktionen des Gaststaats – wie die Festlegung von Einreise-/Ausreisepunkten, Bereitstellung von Begleitteams oder Unterzeichnung von Inspektionsberichten – an dieses Regime abzutreten.
Sind in einer abtrünnigen Region ausländische Streitkräfte stationiert, dann könnten Staaten, die ihre Unabhängigkeit anerkennen, behaupten, dass das De-facto-Regime die Zustimmung als Gastland erteilt hat, während der Staat, von dem sie sich abgespalten haben will, dieser Sichtweise aufs Heftigste widersprechen wird, stellen doch die auf umstrittenen Gebiet stationierten Streitkräfte aus seiner Sicht eine widerrechtliche Besetzung unter Verletzung seiner Souveränität dar.
Vier Beispiele
Will man diese Überlegungen an der Realität der Konflikte messen, ist eine Analyse der vier Konfliktschauplätze in Europa angezeigt, bei denen die OSZE in die Bewältigung von Langzeitkonflikten eingebunden ist.
Im Falle von Bergkarabach bestehen keine Beziehungen zwischen dem Staat (Aserbaidschan) und dem De-facto-Regime. Der einzige Austausch sind Schusswechsel. Die Lage ließe sich durch die Einführung von Transparenzmaßnahmen und einen Mechanismus zur Verhütung von Zwischenfällen verbessern. Die derzeitige Aufstockung der Anzahl von Beobachtungsbesuchen ist ein kleiner Schritt in die richtige Richtung.
Im Falle von Abchasien und Südossetien gibt es beschränkte Beziehungen zwischen dem Staat und den beiden De-facto-Regimen. Letztere werden zwar von Georgien offiziell nicht als Verhandlungspartner anerkannt, doch nehmen an den internationalen Genfer Gesprächen Vertreter aus Tiflis, Zchinwali und Suchumi sowie aus Moskau und Washington teil, wobei sich die Vereinten Nationen, die OSZE und die Europäische Union den Vorsitz teilen. Die von den internationalen Genfer Gesprächen angestoßenen Mechanismen für Südossetien und Abchasien zur Verhinderung und Regelung von Zwischenfällen befassen sich mit konkreten Problemen vor Ort. Derzeit sind Rüstungskontrollvereinbarungen darin nicht vorgesehen, doch könnten sie als Rahmen für die Erörterung und Umsetzung derartiger Maßnahmen dienen.
Im Falle der Ostukraine gehören die De-facto-Behörden von Donezk und Luhansk nicht dem offiziellen Vermittlungsformat der Trilateralen Kontaktgruppe an, mit der sie jedoch häufig Verhandlungen führen; sie haben auch die beiden Minsker Vereinbarungen vom September 2014 und Februar 2015 unterzeichnet. Diese schließen auch mehrere Rüstungskontrollmaßnahmen im Zusammenhang mit der Feuereinstellung mit ein, allen voran der Abzug bestimmter Kategorien schwerer Waffen aus Sicherheitszonen unterschiedlicher Tiefe. Hier sind eindeutig Maßnahmen der statusneutralen Rüstungskontrolle vorhanden.
Im Falle von Transnistrien wird das De-facto-Regime vom betroffenen Staat eindeutig als Verhandlungspartner anerkannt und ist Teil des offiziellen „5+2“-Verhandlungsformats (Moldau, Transnistrien, OSZE, Russland und die Ukraine, sowie die Europäische Union und die Vereinigten Staaten). Vor diesem Hintergrund hat die OSZE-Mission in Moldau mit Unterstützung russischer und ukrainischer Experten 2004/2005 ein umfassendes Paket von Rüstungskontroll- und VSB-Maßnahmen erarbeitet, das zu einer vollständigen Entmilitarisierung dieser beiden Teilgebiete geführt hätte, wäre es denn umgesetzt worden – was nicht der Fall war. Die beiden wahrscheinlichsten Gründe für diesen Misserfolg waren wohl das politische Klima, das sich nach dem Scheitern des Kosak-Memorandums von 2003 (einem Abkommen über einen asymmetrisch geeinten moldauischen Staat) verschlechtert hatte, sowie die Tatsache, dass sich die Vorschläge jeweils auf das gesamte Gebiet von Moldau und Transnistrien bezogen und damit die beiden Gebiete implizit als gleichberechtigt behandelt wurden – eine Strategie, die nach hinten losging, da die moldauische Seite der Auffassung war, dass Transnistrien nicht als gleichberechtigter Partner zu behandeln sei.
Diese Beispiele zeigen, dass die Beziehung zwischen dem völkerrechtlich eher anerkannten Staat und dem abtrünnigen De-facto-Regime der Schlüssel zur Durchführbarkeit einer statusneutralen Rüstungskontrolle ist. Auch wenn die vier Beispiele keine wirklichen Erfolgsgeschichten sind, zeigen sie doch, dass statusneutrale Rüstungskontrollmaßnahmen umgesetzt werden können, wenn alle Seiten einverstanden sind.
Ein ausführlicherer Artikel der Autoren zu diesem Thema soll 2017 erscheinen.
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