Vermittlung eines Waffenstillstands
Die Einstellung der Kampfhandlungen ist der erste Schritt, um in einem Konflikt Frieden zu schaffen. Julian Thomas Hottinger aus dem Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten verfügt über große Erfahrung als Mediator. Als Experte leistete er bei Friedensverhandlungen in Konfliktsituationen wie im Sudan, in Indonesien und Uganda technische Hilfe. Georg Stein ist leitender Berater für Mediation im Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten und spezialisiert auf die Mediation bei Waffenstillstandsverhandlungen. Am 5. Juli 2019 waren beide als Gastredner bei einem Treffen des OSZE‑Freundeskreises für Mediation in Wien. Hier beantworten sie Fragen zu den besonderen Herausforderungen der Waffenstillstandsmediation.
Was unterscheidet die Mediation zur Vermittlung eines Waffenstillstands von anderen Aufgaben im Friedenskonsolidierungsprozess?
Julian Hottinger: Jeder Waffenstillstand ist anders. Es gibt keine Patentlösungen. Seit 1948 wurden mindestens 148 Waffenstillstandsvereinbarungen geschlossen, jede davon ein Einzelfall, keine von ihnen einfach zu verhandeln. Ohne eine politische Einigung geht es nicht. Oft hört man, Waffenstillstandsvereinbarungen seien technische Vereinbarungen, was auch stimmt. Aber die politische Vereinbarung kommt zuerst, alles Weitere hängt von ihr ab.
Die Terminologie ist häufig überfrachtet und bedeutet für die jeweiligen Parteien nicht immer dasselbe. Selten findet man ein Waffenstillstandsdokument, in dem tatsächlich das Wort „Waffenstillstand“ zu finden ist. Eines der wichtigsten Elemente einer Vereinbarung ist ein Glossar, in dem klar – manchmal sogar überdeutlich – definiert ist, was die Begriffe bedeuten, um Missverständnisse zu vermeiden. Kreative Mehrdeutigkeit ist hier fehl am Platz.
Eine Waffenstillstandsvereinbarung löst keinen Konflikt – sie ist keine eigenständige Vereinbarung. Sie schafft (generiert) Raum für Verhandlungen zwischen den Parteien. Wenn Menschen sich zur Vereinbarung eines Waffenstillstands an den Verhandlungstisch setzen, kommen sie direkt vom Kriegsschauplatz. Sie müssen sich auf eine andere Logik, auf eine andere Art von Lösungen einstellen. Anfangs gibt es da noch kein Vertrauen.
Welche Voraussetzungen müssen gegeben sein, ehe die Parteien ins Gespräch kommen?
Hottinger: Die Vorbereitungen beginnen lange bevor wir uns an einen Tisch setzen – in Form von informellen Kontakten, monatelangem, manchmal jahrelangem Pendeln zwischen den Seiten. Wir müssen zunächst versuchen, den Konflikt zu verstehen und das Vertrauen der Parteien zu gewinnen. Manchmal bittet man uns, mit Menschen aus dem Konfliktumfeld Kontakt aufzunehmen, mit Menschen in der Diaspora, verschiedenen Interessenvertretern, und so lernen wir allmählich die eigentlichen Entscheidungsträger kennen. Wichtig ist dabei, zuzuhören und darauf hinzuweisen, was möglich ist. Manchmal ist ein Konflikt noch nicht reif für Verhandlungen, dann kann es wichtig sein, das auch zu auszusprechen.
Wenn die Verhandlungen dann tatsächlich beginnen, was peilen Sie dabei zuerst an?
Hottinger: Das erste Ziel ist ein vorläufiger Waffenstillstand – die Situation einzufrieren, eine Form von Normalität zu schaffen, damit Gespräche stattfinden können. Derartige Vereinbarungen haben meist kein langes Leben, sie halten meist nur 9 bis 36 Monate, und sie können auch leicht scheitern. Die dabei stattfindenden Verhandlungen sind schwierig, etwa wie die Trennung von Streitkräften erfolgen soll, welche Bewaffnung wie kontrolliert werden soll, es geht um den Truppenabzug und seine Überwachung und Verifikation.
Anfangs geben Aussagen zur aktuellen Lage wenig Auskunft über die tatsächlichen Verhältnisse vor Ort – mit Hilfe von Technologien wie Drohnen oder durch Informationen darüber, welcher Art die Verletzungen sind, zu denen es vor Ort kommt, kann man sich ein realistischeres Bild verschaffen. Ob dieser Waffenstillstand hält oder nicht, hängt vom guten Willen der Parteien ab. Fehlt dieser, ist die Gefahr groß, dass der Waffenstillstand gebrochen wird, worauf ein neuerlicher Versuch folgt, und so fort, und mit jedem Mal wird es schwieriger werden, zu einer Vereinbarung zu kommen.
Wie kommt man von einem vorläufigen Waffenstillstand zu einem dauerhaften?
Georg Stein: Die in einer vorläufigen Waffenstillstandsvereinbarung vorgesehene Überwachung und Verifikation sind in der Phase der schrittweisen Umsetzung äußerst wichtig. Beobachter (monitors) sind die „Augen und Ohren“ vor Ort und melden alle Vorfälle. Die Verifikation ist eine gesonderte Aufgabe, bei der es darum geht, diese Vorfälle systematisch zu erfassen und im Falle von Verstößen Lösungen zu suchen, um eine neuerliche Verletzung des Waffenstillstands zu verhindern. Diese Übergangsphase eignet sich gut dafür, Vertrauen aufzubauen, vertrauensbildende Maßnahmen im politischen oder wirtschaftlichen Bereich zu setzen, die der Gesellschaft als Ganzes nützen. Die Zivilbevölkerung muss spüren, dass sich die Dinge zum Besseren wenden, damit ein dauerhafter Waffenstillstand eine Chance hat.
Eine endgültige Waffenstillstandsvereinbarung zielt auf ein Ende des Krieges ab – den Übergang von einem Sicherheitssektor im „Kriegsmodus“ zu einem Sicherheitssektor im „Friedensmodus“. Sie enthält üblicherweise einen klaren Zeitplan für die Verlegung von Truppen, Entwaffnung, Demobilisierung ehemaliger Kämpfer, das Einsammeln und die Zerstörung von Waffen (oder ihre Wiederindienstnahme, je nach Vereinbarung) sowie für Überwachung und Verifikation. In der Regel wird sie auch ausführlichere Bestimmungen für umfangreichere Programme zur Abrüstung, Demobilisierung und Reform des Sicherheitssektors umfassen. Gespräche über einen Waffenstillstand gehen oft Hand in Hand mit Erörterungen über Fragen wie die demokratische Kontrolle der Streitkräfte und den Aufbau einer Friedenssicherungsarchitektur.
Spielt die Frage der Gerechtigkeit bei der Waffenstillstandsmediation eine Rolle?
Hottinger: Die Frage, ob bei der Mediation zur Herbeiführung eines Waffenstillstands auch Amnestien angeboten werden sollen oder nicht, war sehr umstritten, wobei wir zu folgendem Modus vivendi gekommen sind – es kann keine allgemeine Amnestie geben. Eine Amnestie ist wertlos, wenn sie nicht durchgesetzt werden kann – und genau das wird zumeist der Fall sein. Die Parteien sind sich dessen im Allgemeinen bewusst. Die Frage der Gerechtigkeit klammern wir nicht aus, es ist klar, dass sie zu einem späteren Zeitpunkt thematisiert wird.
Hingegen kann Gerechtigkeit im Sinne von wiederherstellender Gerechtigkeit, mit dem Ziel einer gerechten Gesellschaft, sehr wohl eine wichtige Rolle bei der Waffenstillstandsmediation spielen. Die Parteien dazu zu ermutigen, eine gemeinsame Vision davon zu entwickeln, wie ihre Gesellschaft etwa in 20 Jahren aussehen soll, ist oft überraschend einfach. Die Aufgabe besteht dann darin, herauszufinden, wie sie diese Vision Schritt für Schritt ausgehend von ihrem jetzigen Standpunkt verwirklichen können. Dabei ist es sehr hilfreich, die Zivilgesellschaft in den Prozess einzubinden, um sie mit ins Boot zu holen. Dies kann auf verschiedene Weise geschehen, z.B. in einem parallelen Prozess, dessen Ergebnisse in die Hauptverhandlungen einfließen.
Stein: Um auf das Thema der Verifikation von Waffenstillstandsvereinbarungen und den Umgang mit möglichen Verletzungen zurückzukommen: Im Vordergrund steht hier nicht die Frage der Gerechtigkeit, sondern die Frage, was man tun kann, um die Wiederholung solcher Verstöße gegen den Waffenstillstand zu verhindern, damit der Friedensprozess vorankommt. Die Verifikation gibt den Parteien Gelegenheit zur Zusammenarbeit und zum Aufbau von Vertrauen. Das kann auf verschiedene Weise geschehen, durch die Zivilgesellschaft, durch die Seiten, durch einen Dritten oder durch beide Seiten und einen Dritten – was wir „die drei im Jeep nennen“.
Gibt es eine Medienstrategie? Wie transparent sollte Mediation sein?
Hottinger: Kommunikation – also wie die Verhandlungen kommuniziert werden – gehört von Anfang an zur Planung eines Mediationsprozesses. Das muss man unbedingt vorher durchdenken und mit den Parteien absprechen. In der Regel kommt man überein, dass der Chefmediator im Namen des Prozesses spricht, während es den Parteien freisteht, ihren eigenen Standpunkt mitzuteilen. Wir arbeiten immer nach den Chatham House Rules – die es den Teilnehmern überlassen, über den Inhalt der Verhandlungen zu sprechen, nicht jedoch darüber, wer etwas gesagt hat. Natürlich kann es immer Überraschungen geben – und dann muss man entsprechend darauf reagieren. Dass etwas nach außen dringt oder es Probleme gibt, ist eher am Anfang zu erwarten, aber mit dem Fortschreiten der Verhandlungen beruhigen sich die Dinge zumeist.
Stein: Bei der Umsetzung einer Waffenstillstandsvereinbarung ist die öffentliche Kommunikation äußerst wichtig. Vor allem in Bereichen, in denen die Zivilbevölkerung betroffen ist, muss die Öffentlichkeit wissen, was passiert, und es muss klar sein, was die Seiten tun dürfen und was verboten ist. Das ist ein wichtiger Teil der Normalisierung.
Muss ein Mediator in Bezug auf einen Konflikt neutral sein?
Hottinger: Ein Mediator kann gar nicht neutral sein. Wenn ich als Mediator eingesetzt bin, sage ich ganz deutlich, dass ich Schweizer bin, bestimmte kulturelle und religiöse Werte vertrete und einer politischen Partei angehöre. Gleichzeitig bin ich absolut unparteiisch – ich behandle alle gleich. Jeder Mediator/jede Mediatorin hat seinen/ihren ganz persönlichen Stil – und manchmal ist man einfach die falsche Person für den Job. Es kommt vor, und auch mir ist das schon passiert, dass die Chemie einfach nicht stimmt. Das nimmt man dann zur Kenntnis, wechselt den Mediator, und ein anderer kommt in derselben Situation unter Umständen zu guten Ergebnissen. Das Wichtigste sind Achtung und Respekt – man respektiert andere, und wird normalerweise auch selbst respektiert.
Welche Rolle kommt Frauen in der Waffenstillstandsmediation zu?
Hottinger: Frauen sind oft sehr erfolgreiche Mediatorinnen bei Waffenstillstandsvereinbarungen. Sie gehen tendenziell anders daran heran als Männer, was sehr sinnvoll sein kann. Manchmal haben sie genau das Expertenwissen oder den Ansatz, den es in einer bestimmten Frage braucht.
Es gibt nicht genug Frauen in der Mediation. Man darf nicht vergessen, dass 41 Prozent der Kämpfer in Kolumbien Frauen waren. Dann ist da noch das Problem der Wiedereingliederung von Kämpfern in die Gesellschaft: Das ist gerade für junge Frauen besonders problematisch.
Wie beurteilen Sie den Trend zur Professionalisierung der Mediation?
Hottinger: Mediation ist immer Teamarbeit, und man braucht Menschen mit unterschiedlichen Erfahrungen. So kann eine prominente politische Persönlichkeit ihr politisches Gewicht in die Verhandlungen einbringen, ohne dass man von ihr erwartet, dass sie sich auf die Detailebene der Mediationsarbeit begibt. Verhandlungen sind heutzutage äußerst kompliziert und erfordern Expertenwissen in verschiedensten Bereichen, wie etwa den wirtschaftlichen Aspekten der Mineralölbranche.
Gleichzeitig besteht Bedarf an Mediationsgeneralisten – Menschen mit Erfahrung in Prozessdesign. Im besten Fall ist es so, dass die Parteien für den Inhalt der Erörterungen verantwortlich sind, während der Mediator den Prozess leitet. Natürlich muss der Prozess nach Maßgabe jeder neuen Entwicklung neu konzipiert werden. Daher ist es sinnvoller, von Prozessdesign in der Mehrzahl zu sprechen – als unendliche Menge!
Wie schaffen Sie es, sich auch nach so vielen Jahren der Mediationstätigkeit noch mit Enthusiasmus der Mediation zu widmen?
Hottinger: Es gibt fünf oder sechs Fragen, die einen Mediator rund um die Uhr beschäftigen: Was wollen wir? Wen brauchen wir dazu? Wie stellen wir es an? Wann? Wie wird es finanziert? Und wie wird es überwacht?
Was mich nicht erlahmen lässt? Die Tatsache, dass es für einen Konflikt immer eine Lösung gibt. Kein Mensch ist nur gut oder nur böse. Die an einem Konflikt beteiligten Parteien wissen in der Regel, was es braucht, um zu einer Vereinbarung über die Beendigung des Konflikts zu kommen, und in der Regel wollen sie das auch.
Es ist ganz wichtig herauszufinden, ob es Möglichkeiten gibt, einen Konflikt zu beenden – was fast immer der Fall ist.
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